Carla fiel niemals groß auf. Sie wollte es so, denn ihr wichtigstes Ziel war es, genau wie alle anderen sein. So hatte sie das Gefühl, dazuzugehören und sich mit anderen auf einer Welle zu bewegen, mit dem Strom. Am liebsten waren ihr Situationen, in denen sie nur eine unter Vielen war. Jedes Wochenende begab sie sich in die Einkaufsmeile der Stadt und ließ sich im Kommen und Gehen der Leute mittreiben. Sie nahm auch gerne an großen Events teil, wo sie sich als Teil der Masse fühlen konnte – eins mit allen anderen. Diesen Samstag hatte sie sich eine große Messe vorgenommen. Sie wollte sich auf dem Maimarkt vor der Stadt unter Tausenden anderer Menschen mischen.
Schon die Fahrt mit dem Bus war vielversprechend. An jeder Haltestelle stiegen mehr Menschen zu, so dass bald alle Stehplätze aufgefüllt waren. Es wurde warm im Bus, doch das machte nichts. Die meisten Leute waren schon in Maimarktstimmung und nahmen das Gedränge und Geschaukel belustigt zur Kenntnis. Auch Carla, die einen Sitz ergattert hatte, strahlte die Leute an. Mit ihrem beigen Sonnenhut hatte sie an diesem Tag die richtige Wahl getroffen, wie sie mit Blick auf weitere offensichtliche Maimarkter mit Sonnenschutz feststellen konnte. Schon fühlte sie sich von der Gruppe wunderbar angenommen. Sie alle waren Teil dieses Erlebnisses, sie alle gehörten zusammen, schien es Carla. Und sie bedauerte es, dass sich die Gruppe am Zielort zerstreuen würde. An der Maimarkt-Haltestelle stiegen die meisten aus und Carla folgte ihnen zum Eingang, bezahlte ihren Eintritt.
Als erstes wollte sie sich in einem Menschenstrom auf dem Weg zur Messehalle 1 schieben, später würde sie sich in die Schlange bei dem Bäcker stellen, der die Maimarktbecher verkaufte. Sie freute sich schon auf diese kalorienhaltige Süßspeise mit Erdbeeren und Sahne. Da kamen zwei Ordner auf sie zu. „Halt, junge Frau! Stehengeblieben.“ Carla erschrak. Der eine von ihnen positionierte sich vor ihr und sagte ernst: „Bitte kommen Sie mit uns mit!“ „Aber wieso denn? Was ist denn los? Habe ich etwas verbrochen?“ fragte Carla angestrengt zurück. Es fiel ihr nichts ein, was sie eventuell anders als andere gemacht hätte. Der Ordner lachte und schüttelte den Kopf: „Keine Angst, das erfahren Sie schon noch.“ Beunruhigt folgte Carla den beiden zurück zum Eingang. Ihr kam es so vor, als würde sie vor den Augen aller anderen von der Polizei abgeführt. Die Frau, bei der sie das Ticket gekauft hatte, winkte ihr eifrig aus dem Ticketschalter zu und rief so laut, dass Leute zu ihnen hinüberschauten: „Sie sind unsere 300.000. Besucherin!“ Carla schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, eine Lawine auf sich zurollen zu sehen. Diese Messe belohnte die 100.000., 200.000. und 300.000. Besucher mit kleinen oder größeren Geschenken. Das stand dann auch in der Zeitung, mit Foto und allem Drum und Dran. Carla spürte ihr Herz klopfen, jetzt würde sie auf das Präsentiertablett gehoben. Vor all den anderen Menschen. Könnte sie das nicht abwenden? Mensch aber auch! Sie schwankte. Aber sie war auch gespannt, was für ein Geschenk sie wohl erwartete. Wie ging das wohl weiter? Carla zog den Sonnenhut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Nach etwa 5 Minuten, die ihr ewig vorkamen, sah sie eine dunkelhäutige Frau mit einem Maimarktschild und einem großen Umschlag auf sich zukommen. Im Schlepptau ein Fotograf, der sie flugs zusammen mit dem Schild für das Foto aufstellte und schon zu knipsen begann. Die Dame schüttelte ihr die Hand und stellte sich vor. Sie sei Chefin des Tourismusverbands Cabo Verde: „Wir haben das Präsent für Sie als 300.000. Besucherin auf dem Maimarkt gestiftet. Es ist eine einwöchige Reise für zwei Personen zur größten Insel von Kap Verde: Santiago. Mit Flug, Halbpension, Ausflügen. Wissen Sie schon, wen Sie mitnehmen?“ Carla konnte sie bloß anstarren. Kap Verde? Santiago? Insel? Bilder tauchten vor ihrem Auge auf, von Sandstränden, Meer, Palmen. Dann konnte sie nicht mehr und brach in Lachen aus. Es war zu unglaublich. Der Fotograf knipste weiter. Dann stellte er noch ein paar Fragen zu ihrem Namen und Wohnort, und ob Sie regelmäßig zum Maimarkt käme. Carla erwachte aus ihrem freudigen Schock. „Ja, ich liebe es, hier mit den Massen durch die Maimarkthallen zu ziehen, wie in einer großen Familie, jedes Jahr.“ Sie dachte daran, dass sie lieber in der Masse unterging. Doch sie nahm auch wahr, dass die Menschen ringsum ihr applaudierten und sie als Glückspilz bezeichneten. Sie sahen sie an und sie freuten sich mit ihr. Und Carla freute sich darüber. Es war alles in Ordnung. Auch oben auf der Welle.
Diese Geschichte wurde inspiriert vom Writing Prompt Day 9 von Julie Duffy http://storyaday.org/day-9-character-desire: In den ersten Sätzen der Geschichte den Wunsch der Hauptfigur deutlich machen. Und sie dann in eine Situation versetzen, die im Konflikt mit diesem Wunsch steht.
Liz saß auf ihrem Stuhl und lächelte. Sie fühlte sich wohl. Sie war nicht allein. Hier waren Menschen. Eine Frau saß neben ihr und wiegte sich hin und her und lächelte ebenfalls.
Es waren auch einige Damen in Weiß da und unterhielten sich mit den Menschen. Sie wirkten sehr nett. Sie lächelten. Liz mochte Leute, die lächelten.
Die Damen hatten ihre Haare ordentlich zusammengesteckt und trugen ein Ding in Weiß auf dem Kopf. Immer wieder musste Liz dieses Ding anschauen. Liz versuchte sich an das Wort zu erinnern. Wie sagte man dazu? Wie nannte man ein Ding, das Frauen auf dem Kopf trugen?
Sie versuchte ihr Gedächtnis zu überlisten und es einfach laut auszusprechen: „Ich habe ein Etwas auf dem Kopf, ich trage ein...“ Nichts. Also nochmal: „Ich trage...“ Nichts. Nochmal: „Ich habe ein...“ Die Frau neben ihr hörte auf zu schaukeln und schaute sie an. Liz spürte ihr Herz schlagen. Das war unangenehm, aber sie wollte sich anstrengen. Sie kannte dieses Ding. Und das Wort musste irgendwo in ihrem Kopf sein.
Liz schaute sich noch einmal genau das Ding der weißen Damen an. Es ärgerte sie, dass dieses Wort fehlte. Es war verflixt. Schon wieder etwas, das fehlte. Dieses Wort. Nein, dieses Ding. In ihrem Kopf. Und dabei spürte sie genau, dass sie es kannte. Ja, sie fühlte diese Gewissheit, dass sie selbst schon einmal ein solches Ding hatte. Ihr wurde auf einmal ganz warm und sie wusste, sie würde sich jetzt an etwas erinnern.
Die Erinnerung war diesmal eine Straße, ein Gebäude, eine Wand aus Glas und dahinter diese Dinge, nicht nur in Weiß, sondern auch in Rot, Blau, Beige (und sie freute sich innerlich, dass sie die Farbe Beige kannte) und Grün. Sie und ein Mann standen davor und haben gelacht. Dann waren sie in dem Gebäude und jemand setzte Liz diese Dinge auf den Kopf und sie konnte sich im Spiegel damit betrachten. Und dieser Mann lächelte sie an. Dann wurde eins dieser Dinge für sie eingepackt, eins in Rot. Sie und dieser Mann verließen das Gebäude zusammen, sie an seinem Arm.
Wieder eine heiße Welle Erinnerung und sie spürte wieder ihr Herz laut schlagen. Ein Fest mit vielen Menschen. Dieser Mann tanzte mit ihr, er trug eine schwarze Jacke und eine schwarze Hose, an der Jacke schimmerte etwas und da waren Blumen überall. Und sie hatte ein langes weißes Kleid an, und wieder ein Ding auf dem Kopf, ganz in Weiß. Liz musste kichern und sagte zu der Frau, die neben ihr saß: „Schwarz und weiß, wir waren schwarz und weiß“. Und sie kicherte weiter, aber die Frau starrte nur und sagte gar nichts. Ein Wort tauchte aus den Wellen auf: Hochzeit. Da rief Liz den Damen in Weiß zu: „Haben Sie auch einen Mann für die Hochzeit?“.
Eine der Damen eilte auf sie zu und fragte besorgt: „Liz, Sie haben ja ganz rote Backen, was ist los?“ Liz spürte ihr Herz erneut beben und sie spürte die warme Erinnerung und sie freute sich über sich selbst. Zu der Dame in Weiß sagte sie: „Es war die Hochzeit. Wir haben getanzt, in Schwarz und Weiß!“
Die Dame in Weiß hielt ihr eine Hand an die Stirn. Dann sah Liz sich das Ding genau an, das die Dame auf dem Kopf trug. Sie berührte es: „Wie heißt das?“ Die Dame in Weiß strahlte sie an: „Das ist meine Haube, meine Schwesternhaube“. Liz kicherte und wiederholte ungläubig: „Schwesternhaube?“ Sie schüttelte den Kopf. Das war nicht das Wort für das rote Ding, dass ihr Mann mit ihr ausgesucht hatte.
Aber sie freute sich über die beiden Wörter: Hochzeit und Schwesternhaube. Sie würde sie oft sagen müssen, um sie nicht zu vergessen.
Das ist mein erster Beitrag für einen Mai-Schreibmonat, für den July Duffy von StoryADay.org kreative Impulse liefert: http://storyaday.org/wow-storyaday-may-warmup: Eine Geschichte schreiben in 30 Minuten, entweder nur 100 Wörter oder nicht mehr als 1000. Ich habe 613 Wörter verwendet.
Du bist das unbekannte Wasser
ich kann die Tiefe nur erahnen
deine spiegelglatte See
ein lang vergess'ner Traum
und ich tauche, ich tauche hinab
denn ich will dich seh'n
in der dunkelblauen Nacht
will ich dich versteh'n
Du bist das unbekannte Wasser
und es ist sinnlos mich zu warnen
denn ich schwimm' in deinem Meer
komm und zieh mich in den Sog
in die Strömung, die Strömung hinein
und wenn ich dich seh
ich allein, mit dir ganz allein
werd' ich dich versteh'n
Du bist das unbekannte Wasser
ich lass' dich fließen durch mein Tal
denn du kannst den Durst der Erde stillen
und Grund und Boden werden weich
sind wir uns, sind wir beide uns nah
dann wirst du mich seh'n
und mein Traum wird endlich wahr
wahr, wenn wir uns versteh'n
Ich suche meinen Weg zu dir, mitten im Ozean,
Ich halt' mich an den Kompass tief in mir.
Ich suche meinen Weg zu dir, mitten im Ozean,
Siehst du mich (nicht)? Ich bin hier!
(Lyrics: Livia Grupp)
"Nicht betreten! Lebensgefahr!" stand auf einem kleinen Schild, das auf dem Boden vor der alten Hängebrücke lag. Margit glaubte, den Abdruck eines schlammig-erdigen Schuhs auf dem Warnhinweis zu erkennen. Hier schaute wohl schon lange niemand mehr nach dem Rechten. Von der anderen Seite der Schlucht schienen Stimmen zu grüßen, vielleicht juchzende Kinder im Spiel. Und der Wind trug den Duft von einem Lagerfeuer zu ihrer Nase. Die Brücke war alt. Margit schätzte ihre Länge auf knapp 20 Meter, die Höhe schien ihr unergründlich. Irgendwo da unten war ein Fluss, das wusste sie. Aber sie sah nur Felsen und grünes Gestrüpp. Die Holzbretter, die der Hängebrücke einmal als Trittfläche gedient hatten, waren möglicherweise morsch. Weiter vorn fehlte sogar ein Brett, bemerkte Margit. Sie konnte auf jedem Meter durchbrechen. Und niemand würde es bemerken. Die Halteseile, grau und verwittert, schienen gerade mal das sanfte Schwingen auszuhalten, das irgendwelche Winde auslösten. Nichtsdestotrotz setzte sie ihren Fuß auf das erste Holzbrett der Brücke. Es gab nur diesen Weg.
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Mein Beitrag zum ersten Wort 2016 im Projekt *.txt - "Nichtsdestotrotz".
"Herausforderung" ist ein schönes Wort. Etwas fordert mich, aus mir herauszugehen, mich anzustrengen und zu zeigen, was in mir steckt. Im vergangenen Jahr war meine Teilnahme am Projekt *.txt so eine Herausforderung. Ich habe regelmäßig kreative Texte verfasst, mal Gedichte, mal nachdenkliche Prosa, mal Schreibtipps. Ich bin stolz, dass ich das Jahr über dabei geblieben bin.
Die 17 Wörter aus dem Jahr 2015, jeweils verlinkt mit meinen Beiträgen:
- Gratwanderung
- wünschen
- abgrundtief
- Bild
- gleich
- dein
- Fassade
- acht/Acht
- nackt
- Glück
- Schwermut
- Rausch
- verstehen
- Gewissen
- Tanz
- Distanz
- ruhig
Dominik Leitner führt sein Projekt txt 2016 fort und zieht jetzt jeden ersten Mittwoch im Monat ein neues Wort. Auch ich möchte weitermachen, allerdings kombiniert mit neuen Herausforderungen:
- Ich möchte dieses Jahr die Würze der Kürze schmecken und entdecken. Das heißt, dass ich die ganz kurze Form wähle. Ich möchte Ein-Satz-Stories schreiben.
- Ich möchte außerdem herausfinden, ob ich Lieder schreiben kann.
Schaun mer mal. Das neue Wort ist übrigens nichtsdestotrotz.