Livia Grupp, Text & Schreiben

{jcomments on}

ttbw_button

Im Rahmen der Texttreff-Blogwichtelaktion hat die Texterin und Lektorin Julia Dombrowski mich mit einem 'glossigen' Gastbeitrag zu einem PR-Thema bewichtelt. Herzlichen Dank, Julia, und viel Spaß allen Leserinnen und Lesern!

 

Die Sache mit dem Claim

Claimentwicklung – das ist nichts für Angsthasen in der Werbeindustrie. Das ist eine Aufgabe, die es in sich hat, die Königsklasse der Wortjongleure. Wenn ich mit Menschen spreche, die keine Berührungspunkte mit der Werbebranche haben, und mir dabei der Begriff „Claim“ aus dem Mund rutscht, kichern die ganz oft: „Das ist ja ein alberner Ausdruck – den kenne ich nur aus Goldgräberromanen!“ (Wer liest heute eigentlich noch Goldgräberromane?) Die Analogie zur Goldgräberei ist aber gar nicht abwegig: Denn mit einem Claim steckt ein Unternehmen – oder eine Marke – sozusagen das Gebiet ab, in dem künftig nach Kunden und Marktchancen geschürft werden soll. „Das ist unsere Nische, hier gräbt niemand anderes als wir!“ Ein Claim ist, ganz vereinfacht gesagt, so etwas wie ein Slogan, aber langlebiger. Mit dem Claim sagt ein Unternehmen, eine Institution oder eine Marke: „DAS sind wir, SO sind wir, so sollst DU uns verstehen.“ Er dient also einem bestimmten Ziel, richtet sich dabei an eine definierte Zielgruppe und wirkt im Optimalfall identitätsbildend.

Ganz schön viele Aufgaben für ein prägnantes, knappes Sätzchen. Das macht es so tricky, eines zu erfinden.

Ich habe ein merkwürdiges Talent dafür, dort zu leben, wo das Stadt- oder Regionalmarketing meine jeweilige Lebensabschnittsheimat mit irgendwie unguten Claims schmückt.

Minden zum Beispiel (da bin ich zur Schule gegangen): „seit 798 merk-würdig“. Dieser Claim sagt mir zwei Dinge: Das Stadtmarketing hatte Angst, dass ich dumm bin – deshalb hat es meiner Aufmerksamkeit den Bindestrich geschenkt. „Denk bei ‚merkwürdig‘ nicht an ‚seltsam‘, dumme Julia! Wir kennen deine modischen Entgleisungen der frühen 90er Jahre, als du noch hier in der Fußgängerzone herumgelaufen bist, statt in der Klasse zu sitzen. Du hast Unterricht geschwänzt, um deine Batikpullover spazierenzuführen – wie sollen wir da wissen, ob du klug genug bist, auch ohne Bindestrich zu begreifen, was wir dir sagen wollen?“ Und als zweites sagt das Stadtmarketing mir mit seiner Botschaft: „Alt. Wir sind richtig alt. Wenn was alt ist, ist das auch gut. Wir haben das Gut-Sein nämlich jahrhundertelang geübt. Wenn man alt ist, braucht man sonst eigentlich gar nichts zu sein.“ Schade: So viel Subtext bei so wenig Pointe.

Heute lebe ich in einer Kunstregion namens Südwestfalen. „Kunstregion“ nenne ich sie nicht, weil sich hier so viele Künstler tummeln, sondern weil aus Marketinggründen Städte und Gemeinden zusammengefasst wurden, die eigentlich wenig miteinander zu tun haben. Es ist keine historisch gewachsene Region mit gemeinsamer Herrschaftsgeschichte, sondern der Versuch, ein paar provinzielle Gemeinden mit großem Waldanteil als Wirtschaftsstandort zu etablieren. Und wo ein Marketingwille ist, da ist eine Claimsuche niemals fern.

Die Besonderheit einer Region schlagkräftig in wenigen Worten zum Ausdruck bringen, die eigentlich keine Besonderheit hat, außer dass sie im Süden Westfalens liegt, wo keiner groß was mit dem anderen zu tun hat: Das ist wirklich eine Herausforderung! „Wir liegen im Süden Westfalens, sind aber nichts Besonderes“ hätte nahegelegen, hat sich aber keiner vorzuschlagen getraut. Und „Wir haben mehr Bäume als Ampeln, aber in der Toskana findet das ja auch jeder gut“ war ausschließlich mein persönlicher Geistesblitz – mich hat aber keiner gefragt. Monatelang wurden jedenfalls Ideen gesammelt, Vorschläge eingereicht, Agenturen beauftragt; die Presse berichtete, das Regionalmarketing bloggte über Entwicklungen …

Und dann war er da. Der Claim. Jetzt gehört er zu Südwestfalen wie Spiegelei auf Schnitzel und Graubrot (das essen die hier!). Er soll alles zusammenfassen, was die Gegend und ihre Besonderheiten ausmacht, dabei leicht zu merken und eingängig sein und dem Leser auf Anhieb ein Gefühl dafür vermitteln, wie die Region sich selbst definiert. Und tadarataaa: Der Claim lautet „Alles echt“. Ja, das war’s, mehr kommt nicht. Das war schon die Pointe. Zwei Wörter, kein Sinn. Großes proklamiertes Vorbild in der Entwicklungsphase war laut Regionalmarketing Baden-Württembergs „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ Der genialste Regionalmarketing-Claim, den es meiner Meinung nach je gegeben hat, so als Randbemerkung. Immerhin: 50 % des südwestfälischen Claims – „alles“ – kommen wortwörtlich auch im baden-württembergischen Vorbild vor. Steckt damit nicht in uns allen echt auch ein bisschen Baden-Württemberg?

{socialshareprivacy}